Einführung in die japanische Dichtkunst
Die Geschichte der japanischen Poesie ist in ihren Anfängen stark mit der chinesischen Sprache verbunden. Vor der Tang-Dynastie (ca. 617 – 907) wurde die japanische Sprache lediglich gesprochen. Das älteste schriftlich fixierte Werk in japanischer Sprache ist das Kojiki (auch bekannt unter Furukotofumi oder Furukotobumi) aus dem Jahr 712. Erst der Kontakt mit der chinesischen Literatur im 6. Jahrhundert führte zu großen Umbrüchen. Zu dieser Zeit brachten koreanische Gelehrte die chinesischen Klassiker nach Japan. Auf den japanischen Inseln war man von der chinesischen Literatur und deren Niveau tief beeindruckt. Am Hofe des japanischen Kaisers herrschte ein strenges Bildungsideal, wobei besonderer Wert auf das tadellose Beherrschen der mittelchinesischen Sprache gelegt wurde. Es begann ein mühsamer Prozess der Aufnahme und Transformation, der mehrere Jahrhunderte dauerte und an dessen Ende die Integration der chinesischen Errungenschaften in die japanische Kultur und Poesie stand.
Ab diesem Zeitpunkt entwickelten die Japaner ihre Lyrik eigenständig. Wichtigster Meilenstein in dieser Zeit war der Nihonshoki (auch Yamatobumi genannt). Darin wurden viele Gedichte niedergeschrieben. Die meisten folgten damals noch keiner festen Form. Allerdings gibt es auch einige Gedichte, die als Waka verfasst wurden und damit den Grundstein für die japanische Gedichtsformenlehre legten, aus der später das Tanka, Chōka, Bussokusekika, Sedōka, Katauta, Renga, Haiku und Senryū stammen sollten.
Im Jahr 759 wurde vom japanischen Adligen und Dichter Ōtomo no Yakamochi das Man’yōshū (auch Manioschu) herausgegeben. Der Titel lässt sich mit „Zusammenstellung der zehntausend Blätter“ übersetzen. Das bahnbrechende Werk beinhaltet 4496 Gedichte. Einige stammen aus dem vierten Jahrhundert, während die Mehrheit der Gedichte aus dem siebten und achten Jahrhundert stammt.
Zu Beginn des zehnten Jahrhunderts wurde das Kokin-wakashū auf Befehl des damaligen Tennōs Daigo veröffentlicht. Seine Wirkkraft gilt als stilprägend bis ins 19. Jahrhundert hinein. Das Kokin-wakashū wird in 20 Kapitel unterteilt und umfasst insgesamt 1111 Gedichte. Vier bekannte Hofdichter fungierten als Herausgeber, wobei Ki no Tsurayuki eine Führungsrolle zukam. Diese Sammlung wurde von ihm mit einem japanischen Vorwort versehen und sollte damit eine klare Abgrenzung zur in den Adelskreisen vorherrschenden chinesischen Lyrik setzen.
Zum 300. Jahrestag der Veröffentlichung der Kokin-wakashū-Sammlung wurde im Jahr 1205 das Shinkokin-wakashū herausgegeben. Auf Erlass des Kaisers Go-Toba wurden ca. 2000 Gedichte zusammengestellt. Allerdings wurden nicht nur die lesenswertesten Gedichte aufgenommen: Der Kaiser Go-Toba bestand darauf 46 seiner eigenen Gedichte in die Anthologie mitaufzunehmen. Von den thematischen Leitbildern her betrachtet wurden die vier Jahreszeiten, Liebesgedichte und ein großer Teil an verschiedenen Themenbereichen erfasst.
In den folgenden Jahrhunderten konzentrierten sich die Gedichtsammlungen mehr auf das Renga und Haiku. Erwähnenswert ist die Anthologie von Yamazaki Sōkan aus dem Jahr 1532. Diese Sammlung namens „Shinsen inu tsukuba shū“ begründet die Haiku-Dichtung und gilt noch heute als Referenzwerk für diese Art von Kurzgedichten. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Werke des legendären Matsuo Bashō für die Nachwelt festgehalten. In der „Haikai Shichibushū“-Anthologie wurden von 1684 – 1702 die meisterlichen Haikus Matsuo Bashōs und die seiner Schüler verewigt. Darin enthalten ist auch das weltberühmte „Frosch-Haiku“, das zweifelsohne zu den meistzitiertesten Haikus zählt.
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